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19.11.2007 17:50:42
Mara Bennehain; oder: Wie Hass aus Armut geboren wird (#3300)
symphy
An dem Tag, an dem Mara zum ersten Mal in ihrem Leben von ganzer Kraft schrie, fiel kalter Regen vom Himmel - dicke, dunkle Tropfen, die in ihrem langen Fall vom Fenster der spärlich mit Kerzenlicht beleuchteten Hütte aus eher wie silberne Fäden anmuteten. Wie ein schwerer Schleier hingen die schwarzen Wolken über Secomber. Ihre Eltern waren die ganze Zeit lang still, selbst ihre eigene Mutter hatte während der langen Geburt keinen einzigen Ton aus ihrem Munde verlauten lassen. Ihr Vater war am Fenster gestanden, anstatt seiner Frau die Hand in dieser schweren Stunde zu reichen oder auch nur um sein Kind später von den blutverschmierten, zerlumpten Bettlaken zu heben um es in die Arme zu schließen. Als Maras Mutter schluchzend die Worte "ein Mädchen" stammelte, schloss er die Augen und ballte seine Hände zu Fäusten. Drei Mädchen schon, kein einziger Junge. Und wieder würde der Winter kommen, wie jedes Jahr, und wie jedes Jahr würde die Familie wieder nur von dem leben müssen, was Vater und Mutter in den letzten Monaten gespart und zur Seite gelegt hatten. Dieses unnütze Kind war eines zu viel.
Als er Stunden später durch die Stadt hetzte, regnete es nur noch stärker. Seine Versuche, den tiefen Pfützen auf dem lehmigen, aufgeweichten Boden auszuweichen, wurden von deren schierer Anzahl zu Nichte gemacht. Er war selten in diesem Viertel - große Kaufmannshäuser standen hier heruntergekommenen Verschlägen gegenüber; nirgends waren die Gegensätze in der Stadt größer. Er mied die Gegend, so oft er nur konnte; zu viel erzählte man sich leise flüsternd hinter vorgehaltener Hand - von Menschen, die einfach verschwanden oder anderen, die scheinbar unversehrt und dennoch kalt und leblos in ihren eigenen Wänden vorgefunden wurden. In seinen Armen hielt er das zusammengeknüllte, blutverschmierte Laken - und etwas regte sich darin. Wenn er es nicht hier ungeachtet loswerden konnte – wo sonst? Sein Herz raste. Er wandte sich ziellos nach rechts, dann wieder scharf nach links, bis er in einer dunklen Sackgasse landete. Die Haare hingen ihm dreckverkrustet, klitschnass und strähnig ins Gesicht, der Atem ging schwer, in den Schläfen pochte das Blut. Seit Jahren arbeitete er ohne Tageslicht, und mit jedem Winter rasselte es mehr in seinen Lungen.
Erst zitterte er. Dann - Zögern.
Mit einem Ruck legte er das nackte, ungewaschene Kind, eingewickelt nur in billiges Leinen, in eine der dunklen Ecken - unerwartet vorsichtig, so wäre es zumindest einem unbeteiligten Betrachter vorgekommen.
Gerade als er sich, angewidert von sich selbst, abwenden wollte, öffnete sich plötzlich eine reich verzierte Tür direkt hinter ihm. Keine fünf Schritt entfernt erschien im Türrahmen die Gestalt einer zierlichen Frau, die einen dunklen Umhang um die Schultern gelegt hatte. Aus dem Haus drangen Gesprächsfetzen; Maras Vater konnte aber ob des Tönens des Regens keines der Wörter verstehen. Die Frau scheute sich nicht vor dem massigen Körper des Mannes, die die schweren Steine, die er jeden Tag schleppte, geformt hatten. Langsam ging sie auf ihn zu und blickte ihn an. Kein Wort kam über ihre Lippen, fast schien es schon so, als müsse sie keine Fragen mehr stellen, um zu wissen, was hier vorging.
Und Mara schrie wieder, diesmal noch lauter als ihr Vater.

Später wurde Kezandra geschlagen, hart, oft, und immer wieder - weil sie nach eigenem Ermessen getötet hatte, ohne SEINEN ausdrücklichen Willen, noch dazu an der Pforte eines Hauses unter SEINEM Namen, wo jeder es hätte sehen können. Man sagte, Kezandra könne noch lange nicht erahnen, was SEIN ganzer Wille sei; ihr Fehler sei einzig und allein die mangelnde Furcht vor IHM, dem einzig wahren HERRen.

Es wurde nie beratschlagt, was mit dem Kind des toten Mannes anzustellen sei. Unter SEINEM Dach fanden für gewöhnlich wenig Diskussionen statt, auch wenn oft laut die Stimme erhoben wurde. Nach nur wenigen Stunden hatte der höchste SEINER Diener die Antwort gefunden - im Gebet an IHN. Das Kind war ein Zeichen, so hieß es, wenn auch ein wertloses, und somit eher ein Symbol wie der Hahn, der den neuen Tag verkünde, aber doch rein gar nichts mit dem Sonnenaufgang zu schaffen habe. Ein Symbol für SEINE Macht, wertlose und schwache Leben wahllos zu nehmen, ohne danach zu fragen, und SEINE ergebenen Diener zu geleiten, um SEINE bedingungslose Herrschaft in aller Welt zu verkünden und durchzusetzen.

Kezandra behandelte Mara keinen einzigen Tag lang wie ein Mutter. Mara musste in den nächsten Jahren fast noch mehr ihres jungen Kinderblutes vergießen, als jene, die IHM näher standen und Mara ebenso in SEINEM Namen erzogen wie Kezandra selbst. Nach 12 Jahren hatten die Kinder in Maras Alter oft Blasen an den Händen, wenn sie von der Arbeit kamen – ihre Hände hingegen waren oft geschwollen, blau oder blutverschmiert. Dennoch - die kleinen Finger waren schnell, unglaublich schnell, und dank der Arbeit, die SEINE Diener so oft an den kleinen, zarten Händen heilend vollbrachten, immer noch voll beweglich und äußerlich unversehrt. In wenigen Jahren würde sie den Dolch genauso zu führen wissen wie Kezandra, dessen waren sie sich bewusst - Lehrerin wie auch Schülerin.

Als Mara zum Beweis ihrer Fähigkeiten den ersten Mann ihres Lebens im dunklen Kerker im Keller des Hauses mit einer Klinge tötete, die ab diesem Zeitpunkt ihr kostbarster Besitz wurde, bewies sie nicht nur, dass sie zu dem fähig war, was man ihr auferlegt hatte, sondern auch, dass sie IHM eine ergebene und loyale Dienerin sein würde - genau wie alle anderen, die unter SEINEM Dach in Secomber wohnten - in einem Haus, das Wissende meist mieden und Unwissenden schon manches Mal den frühen Tod beschert hatte.

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Heute sieht man kaum noch, welch ein Leben bereits hinter der jungen Frau liegt. Ihre Figur ist schlank und athletisch, um nicht wie ihr Vater entdeckt zu werden, wenn sie sich nachts bewegt; ihre Hände sind schlank und nicht grob wie die ihres Vaters, schlank genug, um schnell leichte Klingen ziehen zu können; ihr Becken ist weiblich, aber nicht so breit wie das ihrer Mutter - um zu verführen, nicht um zu gebähren. Aber das markanteste ihrer Person bemerken viele zu spät -
Maras Willen, IHM zu dienen, IHM zu folgen, für IHN in den Tod und über Leichen zu gehen.

Mara lächelt - wenn sie Blicke spürt, die an ihren hellen, blonden Haaren haften, an ihrem wohlgeformten Busen, an ihren tiefen, blauen Augen. Doch sie selbst weiß: Nichts davon wird sie abhalten, SEINEM Willen zu Folgen, IHM als Werkzeug zu dienen. Manch einer vermeinte schon, ihre ganze Leidenschaft am eigenen Leib zu fühlen - doch begriffen sie alle erst in den letzten Atemzügen ihres erbärmlichen, verschwendeten Lebens angesichts ihres zu einer hämischen Fratze verzogenen Gesichts, was für die elternlose Mara wahre Liebe bedeutete - nämlich nichts im Gegensatz dazu, ihren ganzen Lieb mit all ihren Fähigkeiten nur einem hinzugeben - TYRANNOS.

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Achtzehn Jahre nach dem Tag ihres Auffindens schickte man sie fort - aus der Stadt, deren Untergrund sich mittlerweile fest genug in den Händen der Diener des wahren HERRen befand. Sie war hier unnütz geworden, aufmerksam geschult, sehr fähig für ihr Alter, aber dennoch schlechter als viele andere, die in SEINEM Namen nachts durch die Stadt zogen. Man sagte ihr neben wenigen anderen Details nur, dass ihr Weg sie auf eine Insel führen würde, fern von ihrer Heimat. Und so kommt es, dass man heute auf sie stoßen kann, wenn man nachts durch Mîrhaven streicht - und mitansehen kann, wie die junge Frau etwas sucht, das ihr Leben noch weiter verderben wird, als es ohnehin schon geschehen ist - einen Weg, der einzigen Sache zu dienen, die wirklich in ihrem Herzen brennt: Der Zwiespalt aus treuem Ergeben und Furcht IHM gegenüber.