16.12.2015 23:17:40 | [Helbrecht] Fleisch und Knochen (#102619) |
Amilcare | Eine Mischung aus verschiedenen Räucherhölzern, Weihrauch und abscheulich penetrantem Duftwasser bedrängte seine Nase. Er öffnete langsam seine Augen. Es hatte keinen Sinn, all dieser überquellenden Farben und Reize auszusperren, wenn dieser Geruch allein ihn fast um den Verstand brachte. Seine Augen erfassten sein Gegenüber, eine beleibte Gur, ein Kind Selunes, die sich perfekt im Einklang mit der Innendekoration ihres Zeltes befand. [i]"Gib mir deine Hand, Junge."[/i] Erklang die rauchig tiefe Stimme des Weibes. Er tat wie ihm geheißen und ergriff ihre beringte Hand. Schwitzig wie sie war, wünschte er sogleich es nicht getan zu haben. Augenblicklich begann die Gur mit ihrem Getue, begann damit kaum verständliche Worte zu murmeln, nachdem sich ihre schweren Augenlider schlossen. Erneut stiegen Zweifel in ihm auf, während seine Augen dem Weg einer dicken Schweißperle auf der Stirn der Alten folgten und er die Übelkeit, die erneut in ihm aufstieg, mit aller Macht zu unterdrücken versuchte. Ihr Murmeln wurde lauter. [i]"Ich sehe etwas, Junge..."[/i] Er schluckte schwer. Nicht weil sie ihn einschüchterte, was sie zweifelsohne mit ihrem Gebaren versuchte, nein, die stickige Luft hatte ihm das letzte bisschen Flüssigkeit im Mund entzogen. [i]"Was ist das? Ich sehe die Göttin am Himmel... aber..."[/i] Seine Augen wandten sich erneut sehnsüchtig dem Ausgang zu, wo die Zeltplane von einer leichten und sicherlich kühlen Brise umworben wurde. Nichts von der klaren Luft drang jedoch in das Zeltinnere. All dieser Tand, der sich seinem Blick wieder einmal aufzwang, vermochte wohl kaum fehlende Zaubermacht zu ersetzen. Vielleicht beim einfachen Volk, jenen, die... Sie schrie. Es war ein markerschütternder Schrei, gefolgt von einem ebenso lautem Poltern, als ihr gewichtiger Körper mitsamt des gepolsterten Stuhls zu Boden fiel, hinein in mehrere Silberpokale. Es war für ihn wie ein Weckruf und zum ersten mal, seitdem er das Zelt betreten hatte, konnte er all die Dinge um sich herum abwerfen und die Frau direkt anblicken. Ihre gewaltigen Brüste bebten, sie japste nach Luft und blickte ihn mit vor Schrecken geweiteten Augen an. [i]"Geh weg, geh weg..."[/i] keuchte sie. [i]"Weg von mir, du Monster..."[/i] Sie wiederholte es, immer wieder, ehe ihre Stimme die alte Kraft zurück fand und damit womöglich das gesamte Zeltlager weckte. Hastig erhob er sich. Sein Geist war nun kristallklar. Es würde ihm nicht gut tun, wenn diese falsche Seherin all diese Kerle ihres Volkes weckte, die nur allzu gut mit einer Klinge umgehen konnten. Aber es war nicht dieser Gedanke, der ihn beunruhigte. Es waren ihre Augen. Schnell warf er die Zeltplanen des Ausgangs beiseite und trat hinaus in die kühle, frische Nachtluft. Noch immer stand Selune am höchsten Punkt des Himmels und kleidete ihr Antlitz in graue Schleier. Es war nicht kühl, sondern kalt. Sein eigener Atem stieg sichtbar in die Nacht hinauf und ein leichter Wind entlockte den Blättern der umliegenden Bäume ein Rascheln. Er war nicht allein. Dort, nur einige Schritte entfernt, auf der anderen Seite der Lichtung, stand sie. Eine Bestie, entsprungen aus dem Albtraum eines wahnsinnigen Hirten. Ihr gewaltiger Körper erzitterte unter den schnellen Atemzügen, der Geifer tropfte langsam von ihren mächtigen Fängen und die rot glühenden Augen versprachen ihrer Beute etliche Grausamkeiten. Das war kein Wolf. Er wusste das. Und obgleich diese Bestie sicherlich ein Pferd überragte, erschien sie ihm so groß wie ein Drache. Weglaufen würde nichts bringen. Er sah es in ihren Augen. Die Lust am Jagen, am Töten. Er ballte seine kleinen Hände zu Fäusten und hielt ihrem Blick stand. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm dies zu tun, doch er sah ihr direkt in ihr finsteres Herz. Eine klauenbewehrte Vorderpfote erhob sich langsam. Allein diese eine Bewegung brachte ihm die Erkenntnis, so offensichtlich, dass sie ihn bis in seine Seele hinein erschütterte. Er würde sterben. Nicht friedlich, nicht im Kampf. Er würde wie ein Stück Fleisch zerissen werden, mehr noch, seine ganze Essenz, alles, was ihn ausmachte, würde von dieser Bestie verschlungen. Es war ein leises Geräusch, kaum hörbar im wilden Reigen der Baumkronen. Die Pfote senkte sich nicht mehr, sie verharrte. Ein Knacken ertönte, dann ein Jaulen, das schnell verstummte. Die Bestie fiel auf die Seite, eine mächtige Klinge steckte in ihrem Leib und funkelte im Mondlicht. Eine weitere Gestalt betrat die Lichtung, drückte mit der linken Hand das Gestrüpp von ihrer dunklen Robe hinfort. Zwei Schritte und er stand neben ihr, drückte seinen schweren, rechten Stiefel auf ihre Seite. Es war ein er. Das Erkennen viel nicht schwer. Er würde dieses Gesicht in einigen Jahren immer wieder sehen. Ein jedes mal, wenn er in eine spiegelnde Oberfläche blickte. [i]"Du musst aufhören." [/i] Erklang seine tiefe Stimme. [i]"Hör auf zu wissen. Fang an zu glauben."[/i] Ein einziger, kurzer Lidschlag und die berobte Gestalt war verschwunden. Auch die Bestie, wie es zunächst schien. Ein Keuchen machte ihn auf eine Gestalt zu seinen Füßen aufmerksam. Ein Mann, gekleidet in schäbiges Leder, dunkles, langes Haar und die Augen der Bestie. Diese Augen. Der Mann sah zu ihm empor und er konnte die Lust am Jagen und Töten immernoch sehen, obgleich sie sich hinter einem Schleier aus Angst und Überraschung verbarg. Er wusste was nun geschehen würde. Es passierte immer wieder. Mit aller Kraft, die seine kindlichen Arme ihm verliehen, rammte er den Holzspeer in die Brust des Liegenden. Es gab kein Abwarten, kein Zögern. Die freien Hände zogen die Klinge des Mannes aus der Scheide an seiner Hüfte. Edel, erstaunlich leicht, selbst für die Hände eines Kindes. Ganz anders als das grässliche Leder. Er hob das Schwert über sein Haupt, so weit er es wagte ohne selbst das Gleichgewicht zu verlieren, und schlug dann zu. Seine Augen schlossen sich und eine kühle Schwärze umwarb seinen Verstand. Er riss sich aus der Ohnmacht und noch bevor er seine Augen öffnen konnte, stieg ihm der bissige Qualm in die Nase. Die Flammen tanzten wild auf den Dächern und erhellten die zugleich erschreckende wie beeindruckende Szenerie vor seinen Augen. So hilflos wirkten die ärmlichen Dorfhütten gegen den unstillbaren Hunger der Feuersbrunst. Dort stand er, mitten auf dem Dorfplatz. Mehrere Gestalten vor ihm, allesamt in dunkle Roben und Mäntel gekleidet, warfen immer zu zweit die leblosen Hüllen der einstigen Bewohner in die feurige Glut des Scheiterhaufens, der die Mitte des Platzes dominierte. Im Schein der anderen Flammen vermochte er weitere Gestalten auszumachen, ähnlich gekleidet, die mit Fackeln die letzten intakten Behausungen entzündeten. Zwei andere zerrten ein junges Mädchen aus einem der noch intakten Häuser. Gekleidet in einfache, graue Leinen, erkannte er sofort, dass sie dereinst vielleicht zur Dorfschönheit gereift wäre. Drei, vier Sommer noch. Ein Pferd schnaubte unruhig und er vermochte sich nicht zu erklären, wie er den Reiter übersehen haben konnte. Ein weißer, mächtiger Hengst, kaum vier Schritte entfernt von dem großen Scheiterhaufen, und auf ihm ein Reiter, so dunkel wie all die anderen. [i]"Sie hat andere Male."[/i] Ertönte die Stimme eines der Männer, die das Mädchen zu dem Pferd zerrten. Der Reiter stieg ab und das Scheppern der Plattenteile unter seiner Robe übertönte das Hinausgleiten seiner Klinge aus der Hüftscheide. Zwei langsame, endlos wirkende Schritte und er ragte vor dem Mädchen empor, das auf die Knie gezwungen worden war. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren ängstlichen Augen, die auf den dunklen Krieger gerichtet waren, der seinerseits einige ihrer Haarsträhnen am Hals mit der Spitze seiner Klinge zur Seite strich. Eine Art Wunde wurde sichtbar, vielleicht ein Biss von einem kruden, brutalen Tier. [i]"Leibwächter?"[/i] Ertönte die Stimme des vorherigen Redners durch das Rauschen des Flammemeeres. [i]"Möglich."[/i] Antwortete ihm der Krieger, der nun seine Klinge wieder senkte. [i]"Wo ist sie, Kind?"[/i] Das Mädchen war nicht in der Lage zu antworten. Es zitterte am ganzen Leib und blickte mit halb geöffnetem Mund in das Gesicht des Kriegers, das er selbst nicht sehen konnte. Aber er wusste es. Er kannte ihn. "Sie ist beinahe dahingerafft. Ihre Verwandlung steht kurz bevor." Stellte der zweite Mann, der das Mädchen hielt, mit nüchterner Klarheit in der Stimme fest. Der Krieger nickte nur. Seine Klinge funkelte im Licht des Feuers. [i]"Vergib mir, Kind."[/i] Nachdem es getan war, wandte sich der Reiter ihm endlich zu. Er kannte das Gesicht. Aber es waren nicht seine Augen. Diese Augen. Er erwachte und richtete sich in der kärglichen Schlafstatt auf. Es gab keinen kalten Schweiß, kein Zittern. Sein Geist war klar, seine Sinne messerscharf. Die Tür öffnete sich mit einem Knarren und das schmutzige Gesicht eines knabenhaften Matrosen zeigte sich. [i]"Ihr... ihr habt geschrien, Herr."[/i] Normalerweise hätte er ein beruhigendes Lächeln für den Jungen bereit gehalten, eine Antwort, die ihm die Unsicherheit aus den Knochen getrieben hätte. Doch er schwieg und erhob sich. [i]"Wir sind fast da."[/i] Der Matrose zog sich zurück und schloss die Tür. Es dauerte nicht lange, da stand er selbst auf dem Deck des Schiffes, mit Blick auf ferne Lichter am Ende der grenzenlosen, rauschenden Weite, während der Seewind an seiner Robe und seiner Kapuze zerrte. Der Kapitän näherte sich ihm mit zögernden Schritten. [i]"Ist sie das?"[/i] [i]"Ja, mein Herr. Die von den Göttern verfluchte Insel."[/i] Ein Blick reichte, um den Mann zum verstummen zu bringen. Normalerweise sparte er sich solche Zurechtweisungen. Aber diese Nacht war alles andere als normal. Mit dem behandschuhten Daumen der linken Hand strich er über die silbernen Kettenglieder und wandte seine grauen Augen erneut der fernen Stadt zu. [i]"Ihr könnt gehen."[/i] Die wässrigen Augen lösten sich dankbar vom schaukelnden Boden und der Kapitän befreite sich aus der halbfertigen Verbeugung, in die er sich verkrampft hatte. [i]"Ach, und Kapitän: Ich wünsche keine Hilfe beim Entladen."[/i] [i]"Ja, mein Herr."[/i] Das war sie also, die Insel. Vielleicht war es eine Sinnestäuschung, aber die Lichter in der Ferne erschienen ihm wie eine Waage, die nicht im Gleichgewicht stand. |